Liebe Leserinnen und Leser,
stellen Sie sich eine geduldige, wenig risikobereite Person vor, die schon vor der Coronapandemie durch eine höhere soziale Verantwortung auffiel, regelmäßig zur Wahl ging, nicht schwarz fuhr und Verständnis zeigte für eine Masernimpfpflicht. Würde sich diese Person wohl freiwillig an die Coronaregeln halten?
„Eigentlich klar, dass die Antwort JA lautet“, werden Sie vielleicht sagen. Denn die oben beschriebene Person besitzt offenkundig alle Eigenschaften, die in der Coronapandemie zur Einhaltung der Coronaregeln führt. Tatsächlich bestätigen Wirtschaftswissenschaftler der Universität Göttingen, dass der Zusammenhang zutrifft. Dies ist deren Studie „Economic preferences and compliance in the social stress test of the COVID-19 crisis“, publiziert in der Fachzeitschrift Journal of Public Economics (www.sciencedirekt, Kurzlink https://bit.ly/38Bk9qD), zu entnehmen.
Was auf den ersten Blick also wie eine Binsenweisheit wirkt, stellt sich bei näherer Betrachtung dann doch als wissenschaftliche Erkenntnis mit konkreter Praxisqualität heraus. So verkünden die Forscher stolz (Zitat aus dem Englischen übersetzt): „Unsere Ergebnisse liefern wertvolle Erkenntnisse für das kurzfristige Krisenmanagement von politischen Entscheidungsträgern in der aktuellen und in zukünftigen Krisen. Die Erkenntnisse erleichtern die Identifizierung von Zielgruppen für die Zuweisung von Überwachungsmaßnahmen (z. B. Strafverfolgung) oder medizinischen Ressourcen (z. B. Impfstoffe, Masken) und mit der Gestaltung von zielgruppenspezifischen Informationskampagnen.“ So weit, so gut, würden die Forscher nicht auch die Mittel zum Zweck beschreiben (Zitat übersetzt): „Das heißt, die Bundesbehörden haben Zugang zu Feinrasterdaten über die Wahlbeteiligung und allgemeine Impfraten, Gemeinden können regionale Daten über Schwarzfahren und Meinungsumfragen liefern, die lokale Informationen über Anti-Impf-Bewegungen enthalten. Zusammen mit Informationen über andere verwandte beobachtbare Maße der sozialen Verantwortung [ … ] könnten die politischen Entscheidungsträger Regionen mit geringer sozialer Compliance vorhersagen.“ Nennt man das, was die Forscher hier in Aussicht stellen, nicht Rasterfahndung? Diese Methode wurde in den 1970er Jahren für die Fahndung nach RAF-Terroristen entwickelt. Die Diskussion darüber, ob eine solche Vorgehensweise bei der Pandemiebekämpfung sinnvoll und gerechtfertigt ist, wird nicht zuletzt von Datenschützern zu führen sein. Es zeichnet sich jedenfalls ab, dass es für Zeitgenossen wie Coronaleugner, Maskenverweigerer oder falsche Atteste ausstellende Ärzte zunehmend enger wird. Die Mittel unserer Gesellschaft zur Durchsetzung von Präventionsmaßnahmen gegen die Pandemie sind noch lange nicht ausgeschöpft. Natürlich braucht es in der Demokratie etwas länger, bis es dazu kommt. Aber sie werden um so entschlossener ergriffen werden, je dramatischer sich die Lage entwickelt. Schon war die Forderung zu hören, hartnäckige Quarantäneverweigerer aus dem Verkehr zu ziehen und in Flüchtlingsheimen zu kasernieren. Unsere Notstandsgesetze bieten noch reichlich Potenzial, um diejenigen zu disziplinieren, die sich nicht freiwillig an die Regeln zur Bekämpfung einer Pandemie halten wollen.