Liebe Leserinnen und Leser,
auf der Business Plattform LinkedIn schlugen aufmerksamkeitsheischende Warnrufe wie dieser schon erhebliche Wellen: „Was, wenn ein US-Präsident Europa vom Internet trennt? ICANN, DNS, Root-Server – alles zentral gesteuert aus den USA! Ein politischer Konflikt reicht. Ein Befehl genügt. Und Europa steht still. Keine Microsoft-Cloud. Kein Google-Account. Kein Amazon-Hosting. Kein Word, kein Excel, kein Business as usual.“
Und falls jemand danach immer noch nicht einsehen wollte, wie angebracht eine Panikattacke jetzt sei, wurde dies noch getoppt von: „Die Frage ist nicht OB – sondern WANN.“
Klingt zunächst nach Science-Fiction – aber auch SF ist ja ein häufig spannendes Gedankenspiel. Denn auch wenn das Internet kein Lichtschalter ist, liegt der Hauptsicherungskasten bekanntlich tatsächlich oft hinterm Atlantik.
Fakten statt Clickbait bitte – wie real ist dieses Risiko?
- Das Internet wurde als Arpanet dezentral und redundant entwickelt, damit man es nicht „ausknipsen“ kann. Es ist nicht zentral aufgebaut, aber zentral beeinflusst. Es gibt 13 Root Nameserver, verteilt über die ganze Welt.
- Seit 2016 hat die US-Regierung keine direkte Kontrolle über ICANN mehr. Die hat hingegen eine weltweite Gruppe aus Regierungen, Technikexperten und NGOs. Aus gutem Grund.
- ICANN, DNS-Root-Zonenverwaltung, viele Cloud-Dienste und DNS-Resolver werden allerdings aus den USA betrieben. Das ist keine „Kill-Switch“-Taste, könnte aber ein Druckmittel abgeben.
- Europa hat mit Hetzner, OVH, Ionos, Scaleway und anderen eigene Cloud-Anbieter, auch mit Rechenzentren in der EU. Zudem bemüht sich die EU mit Projekten wie GAIA-X um mehr digitale Souveränität.
- Microsoft 365, Google Workspace, AWS, Salesforce, Zoom – alles digitale Services von US-Konzernen mit globaler Dominanz. Ein politischer Erlass oder ein Sanktionsmechanismus könnte den Zugriff auf diese Dienste aus Europa blockieren oder verlangsamen.
- Absurde Zollpolitik und Exportkontrollen für Software gibt es längst. Wer sagt, dass sie nicht auch auf Online-Dienste angewandt werden könnten?
Keine Prognose, leider aber auch kein Ammenmärchen.
- Also natürlich wäre nicht „ganz Europa offline“. Doch man stelle sich immerhin vor: Kein Outlook, keine Sharepoint-Sites, keine Teams-Meetings – von heute auf morgen. Was zum Beispiel von unserem Mittelstand bliebe noch arbeitsfähig?
- Auch DNS-Resilienz garantiert noch keine Immunität: Wer kontrolliert die Nameserver für Ihre Domain? Wo steht Ihr Backup? In Oregon oder Oberursel?
Hausgemachte Abhängigkeit – hausgemachter Ausweg?
- Wer alles auslagert, braucht sich über Abhängigkeit nicht zu wundern. Cloud ist bequem – aber per se nicht krisensicher.
- Digitaler Katastrophenschutz heißt: lokale Resilienz aufbauen. Das fängt bei redundanten Mailservern an und hört bei souveränen Kollaborationsplattformen nicht auf.
Ein noch so verrückter US-Präsident könnte nicht einfach Europa „den Stecker ziehen“ wie es manche schlagzeilenhungrig an die Wand malen. Doch unsere digitale Nabelschnur führt bedenklich weit über den Atlantik. Wohl dem, der solche Abhängigkeiten zumindest verringert.