Liebe Leserinnen und Leser,
der Bundestag hat neulich beschlossen, dass Medizinprodukte sicherer werden sollen: Die Bundesbehörden können künftig das Inverkehrbringen oder die Inbetriebnahme eines Medizinproduktes verbieten oder einschränken. Merken Sie was?
Nicht, dass ich gegen den Beschluss gewesen wäre. Er sieht schließlich auch den internationalen Kampf gegen Fälschungen vor. Aber in der aktuellen Corona-Krise hätte ich mir lieber ein Gesetz gewünscht, dass erst einmal die Versorgung und Bevorratung mit Medizinprodukten sicherstellt, Stichworte Beatmungsgeräte, Schutzmasken und Desinfektionsmittel. Dazu ein Zitat aus einem Leserbrief, den uns eine Krankenschwester am 26. März als Reaktion auf meinen Kommentar „Die Wahrheit über Wertschöpfungsketten. 10.000 Euro Brutto für Krankenschwestern!“ (www.direkt.sicherheits-berater.de) geschickt hat. Sie arbeitet in der Ambulanz eines Krankenhauses: „Bei uns liegen die Nerven blank, weil wir die Ruhe vor dem Sturm haben. Das kann sich kein normaler Mensch vorstellen. Gut ist, dass die Menschen sich an viele Regeln halten. Wir werden streng bewacht, wegen der Masken. Ich trage den ganzen Tag eine Maske, die alles durchlässt. Meine sichere Maske trage ich seit über 14 Tagen und dann nur, wenn ich in einem Coronazimmer bin. (…) Und Angst hat jeder von uns.“ Soweit die Lage vor dem Sturm.
Wie der Sturm heute, am 15. April, also gut 14 Tage nach dem Leserbrief, tobt, konnte ich bei Redaktionsschluss nur erahnen. Aber mir schwante (auch wegen der Bilder aus Italien) nichts Gutes. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ vor. Darin geht es, zusammenfassend gesagt, um sehr detaillierte klinisch-ethische Empfehlungen für Ärzte, welche intensivpflichtigen Patienten akut-/intensivmedizinisch behandelt werden sollen und welche nicht. Kurzum, die Empfehlungen helfen den Ärzten dabei zu entscheiden, wen sie sterben lassen müssen und wen nicht, wenn sie zu wenig Intensivbetten haben. Dabei werden alte Menschen keineswegs kategorisch von der Hilfe ausgeschlossen. Vielmehr soll ein Abwägen der Überlebenswahrscheinlichkeiten stattfinden. Das kannte man ja schon aus dem Bereich Amoklagen. Auch hier sind bevorzugt Opfer mit reeller Chance auf Lebensrettung zu behandeln. Die Corona bekämpfenden Ärzte und
Krankenpfleger können jedenfalls auf einen recht langen Antwortkatalog zurückgreifen, um auf Fragen wie „Meine Oma muss auf die Intensivstation! Sonst stirbt sie!“ gewappnet zu sein. Beide Dokumente sind z. B. auf www.dgpalliativmedizin.de zu finden.
Mich plagt so ein bisschen die Angst, dass die Menschen nach Ende der Corona-Krise die Nase gestrichen voll haben von Sicherheitsproblemen, Risiken, Gefährdungsanalysen und Compliance-Vorgaben. In der Menschheitsgeschichte soll es ja schon öfter nach Epidemien zu ausschweifenden Tollheiten ohne jeden Sinn für Sicherheitsfragen gekommen sein. Sicherheitsverantwortliche sollten deshalb schon jetzt darüber nachdenken, wie sie der dann drohenden Awareness-Ignoranz ebenso humorvoll wie wirksam begegnen können.