Liebe Leserinnen und Leser,
hat jemand die Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 14. September gehört oder gelesen? Vermutlich nicht. Dabei ist die jährlich im September gehaltene Rede mindestens so wichtig wie die zur Lage der Nation des Bundeskanzlers oder des US-amerikanischen Präsidenten. Steht da etwas drin zum Thema Sicherheit?
Die meisten von uns dürften von der Rede der EU-Kommissionspräsidentin so viel mitbekommen haben, wie es der Dauer einer Kurzmeldung in den Nachrichten entsprach. Würde es sich lohnen, einmal genauer zuzuhören bzw. in die Transkription hinzuschauen? Sind das nicht zum großen Teil nur Sonntagsreden mit Absichtserklärungen? Professionelle Politikberater jeden-falls analysieren die Manuskripte von national und supranational wichtigen Rednern regelmäßig, vergleichen sie mit früheren Reden, legen jedes Wort auf die Goldwaage und – ziehen Schlüsse daraus.
Und wenn man sich die Zeit nimmt, die Rede einmal in Gänze durchzulesen, findet man zwischen den pathostriefenden Passagen, für die wir weder Zeit noch Geduld haben, auf interessante Punkte, die man möglicherweise weiterverfolgen könnte. Kurzum, dieses Editorial ist – nicht mehr und nicht weniger – ein Plädoyer fürs Quellenstudium.
Die deutlichen Worte der EU-Kommissionspräsidentin gegen Putins Angriffskrieg sind sicher als historisch zu bezeichnen. Auch ihre Forderung einer Krisenabgabe großer Öl-, Gas- und Kohleunternehmen, die enorme Gewinne erzielt haben, ist für eine kapitalismus-treue Rednerin wohl nicht alltäglich. Sodann erläutert von der Leyen geplante Maßnahmen, z. B. die Einsetzung einer Task Force, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, die Änderung der Regeln für Sicherheiten im Energiesystem und die angekündigte um-fassende Reform des Elektrizitätsmarkts. Weiterhin beschreibt sie einige Vorhaben rund um den „europäischen Green Deal“ und bezeichnet die Subventionierung fossiler Brennstoffe unmissverständlich als falsch. Sie nennt das REPowerEU-Maßnahmenpaket zur Erzeugung erneuerbaren Wasserstoffs, die Gründung einer Europäische Wasserstoffbank und die Verdoppelung der Brandbekämpfungskapazitäten im nächsten Jahr.
Im Abschnitt zur Wirtschaftspolitik fällt das Stichwort Entlastungspaket BEFIT für kleine und mittlere Unternehmen mit dem Ziel des Bürokratieabbaus. Die EU-Handelspolitik soll unseren rasant steigenden Bedarf an seltenen Erden sichern mit einem europäischen Gesetz zu kritischen Rohstoffen. Erwähnt werden die Europäische Batterie-Allianz und das Europäische Chip-Gesetz, zudem die feste Absicht zur Kräftigung der Demokratie und zur Bekämpfung der Korruption.
Kurzum, die Rede enthält – selbst abzüglich moralisierender Anteile – einige konkrete Fakten, die mittelbar oder unmittelbar interessant sein dürften auch für Sicherheitsinteressierte. Sie ist auf der Seite der EU-Kommission, https://ec.europa.eu (Kurzlink https://bit.ly/3xwekqB) in deutscher Übersetzung zu finden.